Dienstag. Mittagspause. Oder das, was ich vielleicht von meiner verpassten Mittagspause nachholen kann. In meiner ursprünglichen Pausenzeit hatte ich ein spontanes Gespräch mit einem Akutfall, für den ich im Anschluss Einiges organisieren und natürlich auch dokumentieren musste. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich in keinem Fall meine planmäßige Arbeit für heute schaffen werde und dass meine nachgeholte Mittagspause den Feierabend einleitet, der sich wieder mal um 45 Minuten nach hinten verschieben wird. Es ist ruhig auf dem Flur. Ein Kollege steckt kurz seinen Kopf in den Türrahmen und nickt anerkennend: „Hart gekämpft heute?! Nicht schlecht, nicht schlecht!“. Er zwinkert und geht weiter. Es ist zum Glück so ruhig, dass ich kurz in mein etwas angetrocknetes Brot beißen kann, um danach noch einige Kleinigkeiten für morgen zu erledigen.
Doch höre ich plötzlich Schlüssel und sich verabschiedende Stimmen in der Ferne, gefolgt von Schritten, die an meiner Tür ankommen. Meine Kollegin ist von ihrem Außentermin zurückgekehrt. Ihre Jutetaschen sind vollbepackt mit Flyern und Zeitschriften und über ihrem Arm hängt ein roter Alukorb, aus dem eine Thermoskanne lugt. Um die Schulter hat sie eine Beachflag geschnallt, die ihre Jacke schief sitzen lässt. Dann fallen alle Taschen, der Korb und die Beachflag zu Boden, als sie sich auf meinen Besucherstuhl plumpsen lässt und ich weiß, was jetzt kommt und möchte eigentlich sofort nach Hause fahren.
Als erstes halten wir Small Talk, gefolgt von einem ausführlichen Bericht ihres Außentermins und dann wird das kommen, was mich von einem weiteren Biss ins Brot abhalten wird. Eigentlich mag ich sie, denn sie ist sehr kollegial, wenn man sie an einem guten Tag erwischt. Heute, nach dem anstrengenden Außentermin, ist kein guter Tag und ohne langes Drumherum beginnt sie mit gequältem Gesicht von ihren Schmerzen zu erzählen. Vor ein paar Monaten hatte sie eine Knie-Operation, die ihr immer noch zu schaffen macht. Die Ärztin hat ihr Physio verschrieben, aber dort muss sie erst ein paar Mal gewesen sein, damit es hilft. Zeit dafür hat sie jedoch nicht, denn schon morgen muss sie zur Gynäkologin, um dort einen Abstrich machen zu lassen. Diese Untersuchung muss dringend regelmäßig passieren, da ihre Mutter an Krebs gestorben ist. Ja, mit ihrer Mutter hatte sie nicht das beste Verhältnis, weil dieser öfter mal die Hand ausgerutschte. Aber das war damals halt so. Ein drückendes Schweigen unterbricht den Arzt- und Krankheitsbericht. Die Stille ist wie ein bauschiges Kissen auf meinem Gesicht und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dann befreit sich meine gedankenverlorene Kollegin aus der Starre mit dem gläsernen Blick und fährt, seltsam kichernd, mit ihrer Erzählung fort. Am Ende des Gesprächs habe ich von allen noch ausstehenden Untersuchungen erfahren. Ich weiß, dass ihre Blutwerte im Keller sind, die Schuppenflechte am Unterarm schon wieder juckt und ihre chronische Blasenentzündung Inkontinenz mit sich zieht. Ich denke mir, dass mein Brot sicherlich heute Abend noch schmeckt, wenn ich vor dem Fernseher fast einnicke und lege es wieder zurück in meine Box.
Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagen soll und höre weiter geduldig zu. Das macht man hier so. Hier hat jeder für jeden ein offenes Ohr, damit eine gute Zusammenarbeit dauerhaft funktioniert, was sogar auf der Homepage meines Arbeitgebers prangt. Zum Schluss fühle ich mich schuldig, weil ich heute nichts geschafft habe, was mir morgen im Termin vor die Füße fallen wird. Ich bin total ausgelaugt, müde und habe diese innere quengelige Stimme, die mir eine Tüte von irgendwelchen Kariesbombern abverlangt. Ich frage mich, was heute anstrengender war. Der Akutfall am Mittag oder dieser Redeschwall einer klagenden Kollegin, die jedem Teammitglied bei jeder Gelegenheit ihre Lebensgeschichte erzählt? Mit Leichtigkeit hätte ich mich für einen anderen Job entscheiden können, aber ich wollte mit und für Menschen arbeiten. Wenn mir der Auftrag für einen Akutfall zugeteilt wird, spule ich mein Programm ab. Im schlimmsten Fall kann ich nicht weiterhelfen und verweise auf andere Hilfestellen, was mir nicht immer Sympathien einbringt. Dieser Job ist eine bewusste Entscheidung. Meiner professionellen Arbeitshaltung stehen die Gespräche mit meiner Kollegin entgegen, die schlagenden Überfällen gleichen und mich überfordern.
Ohne Vorwarnung oder Auftragsformulierung werde ich in leidvolle Behandlungen und epische Familientragödien gezogen, in die ich mit jeder noch so flachen Floskel, weiter hineinrutsche. Meine Kollegin redet wie ein Wasserfall und nimmt nicht wahr, dass ich dieses Gespräch nicht führen will! Auf Antworten oder Reaktionen wartet sie nicht mehr und somit habe ich das Gefühl, es einsilbig über mich ergehen lassen zu müssen, weil ich es nicht stoppen kann. Sie vergisst, dass ich als Mensch mit meinem eigenen Päckchen vor ihr an meinem Arbeitsplatz sitze. In einigen Gesprächen treffen mich persönliche, schmerzliche Erinnerungen. Nicht etwa zufällig hervorgerufen, sondern durch eine unsensible Kollegin herbeigeführt. In keinem Fall will ich durch mein unfreiwilliges Zuhören zur Bezugsperson befördert werden! Eine Bezugsperson, die jederzeit am Arbeitsplatz für fast schon therapeutische Settings zur Verfügung stünde. Viele meiner KollegInnen hören ihr aufmerksam und betroffen zu. Manche geben sogar Ratschläge und fiebern mit, wenn wieder ein Familientreffen ansteht. Ich kann das nicht und möchte eigentlich nur meinen Job machen, denn für die Kommunikation mit meiner Kollegin habe ich kein automatisiertes Programm, was sich einfach abspult. Ich habe keinen Auftrag mit festen Terminen und sicheren Methoden. Hier hört man solange zu bis sie fertig ist und wieder in ihr Büro geht. Wie es mir geht ist ihr egal!
Ich habe Angst mich aus dem Team auszuschließen, wenn mich eitrige Wunden und entzündete Nippel nicht interessieren. Die Teamkultur zeigt sich sehr offen für solch ein persönliches Wort und ich bin die Einzige, der es häufig zu übergriffig wird. Die Suche nach einem dramafreien Ausweg, der mich aus dieser Situation befreit und mich gleichzeitig nicht als herzlose Pute aus unserem Team schleudert, scheint aussichtslos zu sein. Oder?! Kann ich ihr ehrlich sagen, dass mir diese Informationen zu persönlich sind oder bin ich dann eine weitere Person, die sie tief verletzen und enttäuschen wird?! Werde ich dann auch eine von jenen Figuren sein, die ihren Alltag so versalzen, dass sie sich gar nicht mehr auf ihre Genesung konzentrieren kann?! Bin ich so ein Rüpel?! Als ich an einem Tag das Klagegespräch spontan wegen einem Kunden unterbrechen musste, stiegen ihr die Tränen in die Augen und im pathetischen Ton flüsterte sie: „Nicht so wichtig“ bevor sie geknickt mein Büro verlies. Ich hab keinen Bock, in eine solch negative Rolle gepresst zu werden, nur weil sie sich nicht im Griff hat und alle anderen im Team wie hilflose HelferInnen ihr auf Kommando zur Seite springen. Immerhin gibt es ja noch KundInnen, deren Anliegen bearbeitet werden müssen, aber die müssen sich hinter meine Kollegin in die Schlange stellen. Sie schwelgt in ihrer klagenden Position, ohne wirklich nach Lösungen zu suchen, ohne an echter Unterstützung interessiert zu sein, doch dafür umso mehr an Wiederholungen von alten Klageliedern, denen andere KollegInnen hörig lauschen (müssen).
Früher wusste ich, was Grenzen im Team für eine Bedeutung haben. Für mich war es die Balance aus fachlicher Zusammenarbeit und zwischenmenschlichen Zusammenhalt. Klar, du brauchst in einer Krise nette KollegInnen, auf die du dich verlassen kannst. Aber heute bin ich mir nicht mehr sicher, wie dieser Zusammenhalt definiert ist. Wann ist Schluss mit Zuhören? Welche Informationen will ich von meinen KollegInnen erfahren und wie detailliert dürfen Erzählungen sein? Und welche Beziehung braucht es, damit KollegInnen sich anvertrauen können? Mir wäre es unangenehm, wenn ich eine andere Person mit meinem Leid überfalle, wenngleich ich einräumen möchte, dass die Einnahme einer klagenden Rolle jedem passieren kann. Auch mir. Daher ist mir es wichtig, dass mich KollegInnen offen darauf ansprechen, selbst wenn ich im ersten Moment verletzt bin. Eine offene Kommunikation ist für mich eine Form von Respekt, den ich gewähre und von anderen erwarte! Ich erwarte auch, dass mich mein Gegenüber nicht als Ablageplatz für seelische Herausforderungen benutzt. Ich fordere klagende KollegInnen nicht auf, ad hoc nach Lösungen zu suchen, sondern inne zu halten, um sich auf die Grenzen im Unternehmen zu besinnen. Klagende KollegInnen müssen sich nicht therapeutisch helfen lassen, lachend durch den Tag gehen und sie sollen auch nicht schweigen. Es sind die Grenzen, die es einzuhalten gilt.
Hier in meinem Team wirken unterschiedliche Grenzen. Ich habe innerlich schon gekündigt, werde dies bald auf Papier bringen und mich nach einem anderen Job umsehen, in dem ich gefahrlos in mein Brot beißen kann!